Borkener Zeitung vom 8. Oktober 2022

Veröffentlicht am 12. Oktober 2022 in der Kategorie Presse

Reiseführer durch das Reich der Pilze

Porträt Helmut Adam, Sachverständiger

Für Helmut Adam beginnt in diesen Tagen wieder die schönste Zeit des Jahres: die Pilzsaison. Temperatur und Bodenfeuchte und überhaupt der goldene Oktober verlaufen vielversprechend. Adam holt seine Standardausrüstung aus dem Kofferraum (Holzkörbchen und Pilzmesser mit integrierter Bürste) – und los geht‘s.

Start der Pilz-Pirsch ist am Forsthaus im Sternbusch. Kaum ist Adam ein paar Meter in den Wald hineingegangen, wird er auch schon fündig. Zwischen gestapelten Baumstämmen erspäht er ein buschig wachsendes Etwas in samtigem Weiß: Austernseitlinge. Was im Supermarkt wohl ein paar Euro kosten würde, gibt’s in der Natur gratis. Doch Adam entdeckt noch mehr: „Ich könnte allein an diesem Fleckchen den ganzen Tag verbringen“, sagt er, lacht und holt eine Lupe aus der Tasche. Auf einem modrigen Stückchen Holz werden bei zehnfacher Vergrößerung winzige Becherlinge sichtbar. Nicht essbar, aber schön anzuschauen.

Adam vollendet in diesem Monat sein 80. Lebensjahr. Schon seit seiner Kindheit ist der Borkener in der wundersamen Welt der Pilze zu Hause, in der putzige Namen wie Nelken-Schwindling, Tränender Saumpilz und Marzipan-Fälbling kursieren. Als Pilzsachverständiger der Deutschen Gesellschaft für Mykologie ist er in der Lage, Arten zweifelsfrei zu bestimmen. Allein in Borken und Umgebung ist Adam bislang 600 bis 800 verschiedenen Spezies auf die Spur gekommen. Längst nicht alle sind zum Verzehr geeignet. Die wenigsten giftig, die aber richtig. „Wer sich nicht hundertprozentig sicher ist, welche Pilze er vor sich hat, sollte sie auf keinen Fall essen, sondern stehenlassen oder sie einem Fachmann zeigen“, sagt Adam und will das doppelt und dreifach unterstrichen wissen.

Seine Leidenschaft für Pilze hänge ganz entscheidend mit seinem Onkel Willi zusammen. Der habe nach dem Krieg den kargen Speiseplan mit Pilzen aufgefüllt, erinnert sich Adam. Bestandteil herbstlicher Mahlzeiten war dann unter anderem der Kahle Krempling. Bis in die 1970er Jahre hinein war das ein geschätzter Speisepilz, der auch auf Märkten gehandelt wurde. Adams Rat im Lichte der heutigen Wissenschaft: In keinem Fall essen! Der Pilz ist heute als tödlich giftig eingestuft. Der Kahle Krempling war schon immer roh oder nicht ausreichend gegart giftig und führte zu erheblichen Magen-Darm-Problemen. Sein Onkel habe das gewusst. „Sonst würde ich jetzt nicht hier stehen“, sagt Adam und lacht wieder. Todernst berichtet er dann aber: „Neben der Roh-Giftigkeit kann der Pilz jedoch nach wiederholtem Genuss eine allergische Reaktion auslösen, die zu einer Hämolyse, einer Auflösung der Roten Blutkörperchen, führen kann.“

Neben dem Aussehen ist der Geruch ein entscheidendes Kriterium für die Bestimmung eines Pilzes. Als Beispiel nennt Adam den Karbol-Egerling, der von der Optik leicht mit dem Wiesen-Champignon und dem Anis-Champignon verwechselt werden kann und unangenehm nach Phenol riecht, früher Karbol genannt. Adam kürzt den Stiel mit seinem Pilzmesser. „Die gelbe Färbung weist darauf hin, dass er giftig ist.“

Der 79-Jährige scheint ein fotografisches Gedächtnis für Pilzvorkommen in der Region zu haben. Unter mächtigen Buchen im Sternbusch sagt er plötzlich: „Vor etwa 40 Jahren habe ich in diesem Waldstück ein einziges Mal einen Marzipan-Fälbling gefunden.“ Dessen Duft: selbsterklärend. Warum es bei dieser einmaligen Entdeckung blieb, erklärt der Fachmann so: „Es schwirren unzählige Milliarden Pilzsporen durch die Luft, und irgendwann haben die mal genau hier das ideale Substrat gefunden.“

Kaum spricht‘s Adam aus, macht er am Rand des Waldwegs die nächste Entdeckung. Aus dem feuchten Boden recken sich längliche Hüte empor, und das zu Dutzenden. Es sind, da muss der Mykologe keine Sekunde überlegen, junge Schopf-Tintlinge. „Ein häufig vorkommender Speisepilz“, erklärt Adam. Er holt sich ein Exemplar auf die Hand und macht mit dem Messer einen Längsschnitt. Das stangenähnliche Innere ist strahlend weiß. „Genau deswegen und wegen seines zarten Geschmacks nennt man den Schopf-Tintling auch Spargelpilz“, erklärt Adam. Und noch etwas zum Namen: Tintling heißt er deshalb, weil die älteren Exemplare (die aber auch nur einige wenige Tage auf dem Buckel haben) am Rand ihrer Kappe eine tintenfarbige Flüssigkeit absondern.

Mit Blick auf sein Alter trete er als Sachverständiger inzwischen ein bisschen kürzer. Auf der Expertenliste des Dachverbandes im Internet habe er – A wie Adam – immer an erster Stelle gestanden – und deshalb Anrufe aus ganz Deutschland entgegennehmen dürfen. „Aber Leuten in Bayern zu raten, wie sie den Hallimasch aus dem Garten bekommen, war dann doch ein bisschen zu viel des Guten“, nennt er ein Beispiel. Wenn er aber zu den Pilzwanderungen, zu denen der Natur- und Vogelschutzverein Borken in diesem Oktober einlädt, hinzugebeten wird, ist Adam gern zur Stelle.

Pilzsammeln scheint ein Trend zu sein. Naturerlebnis plus Selbstversorgung, die Leute mögen das. Hier und da bemerkt er als regelmäßiger Waldbesucher die Auswüchse. „Ich sah mal welche, die suchten mit Harken nach Pfifferlingen. Das geht gar nicht: So macht man das Myzel kaputt, das symbiotische Geflecht der Pilze mit den Baumwurzeln“, tadelt Adam. Leider habe er in dieser Gegend schon seit Jahren keine Echten Pfifferlinge mehr gesehen.

Nach dem Sternbusch steuert Adam noch kurz ein Birkenwäldchen zwischen Gemen und Ramsdorf an. „Da gibt es Schopf-Tintlinge in rauen Mengen“, verspricht er. Das habe er gestern auf einer Radtour gesehen. Und tatsächlich: Schon von weitem leuchten die weißen Kappen im grünen Gras. Aber was muss Adam da mitansehen: Der Bestand ist zum Teil abgeerntet, der unbekannte Sammler hat die Stengel abgeschnitten und liegengelassen – und damit auf „Spargel“ im Herbst verzichtet. Adams kopfschüttelnder Kommentar: „Das kann nur ein Anfänger gewesen sein.“

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